Margarete Hannsmann undSerge Ehrensperger imZürcher SchauspielhausDezember 1994

Margarete Hannsmann und
Serge Ehrensperger im
Zürcher Schauspielhaus
Dezember 1994

VIRTUOSE IN ALLEN VARIATIONEN
Margarete Hannsmann

Rede auf Serge Ehrensperger anlässlich der Lesung des Autors im Zürcher Schauspielhauskeller bei der Neuherausgabe seines Romans Prinzessin in Formalin
im Dezember 1994

Dass ich nach Zürich gekommen bin, um ein Buch vorzustellen, hat mit Gerechtigkeit zu tun. Zeitlebens bemühe ich mich um Gerechtigkeit. Erfolg und Misserfolg halten sich die Waage, und das ist viel.
Es gibt Beispiele bedeutender Bücher, die erst nach dem Tod des Autors entdeckt werden. Es gibt Bücher, die nicht zu trennen sind von ihrem Autor, und solche, die ihren Weg auch ohne ihn machen.
PRINZESSIN IN FORMALIN gehört in unser Jahrhundert, auch im Jahr Zweitausend ist es nicht zu spät, ihm den Platz in der Literaturgeschichte einzuräumen. Nur: der Autor lebt jetzt, heute, mitten unter uns. – Doch zuerst muss ich diesen Roman von seinem Autor trennen, bevor ich dem Buch das Maß Identität mit seinem Autor einräume, das jedem Werk innewohnt. >Prinzessin in Formalin< ist ein Stück Weltliteratur. Allein darum geht es mir. Wäre das Buch aus dem Englischen, Französischen zu uns gekommen, es hätte längst seinen internationalen Platz: Stil und Sprache entsprechen den Maßstäben. Form und Inhalt sind einander adäquat. Seine Crux: die deutsche Sprache triumphiert im Original! Wie oft bedarf es jahrzehntelanger Übersetzer Missverständnisse, jedoch die >Prinzessin in Formalin< besitzt weder deutsche, noch österreichische Eigenschaften, und die Schweiz, scheinbar weltoffen und international, aus der so manchem Autor, wie damals Ehrensperger, der Karrieresprung in deutsche Verlage gelungen ist, die Schweiz nimmt das Buch nicht zur Kenntnis, verschweigt, verachtet es. >Die Schweiz< heißt hier: ihre literarische Szene. Und Frauen, die lesen können. Und Männer. Womit wir beim Autor angelangt wären. Sein Buch hat es nicht verdient, ein Geheimtip für
Einzelgänger zu bleiben. Serge Ehrensperger also. Aus Winterthur zwar, der damals in Zürich lebte, und schrieb, dessen >Prinzessin< schon einmal vor 25 Jahren auf der Welt war. Damals hätte es ein Kultbuch werden können, hymnische Rezensionen verglichen es mit James Joyce, Henry Miller, mit Autoren vom Stamme Nabokov, doch das Buch wurde abgewürgt. Was war geschehen?
Die 68er Revolution bewegte die Universitäten Europas, Woodstock und Blumenkinder kamen aus den USA, in ihrem Gefolge gewaltige Veränderungen gesellschaftlicher Traditionen: make love not war , Wohngemeinschaften, Freie Liebe, Promiskuität, aus den emanzipierten Frauen wurden Feministinnen. Sex, von dem das Buch durchtränkt ist, will man damals nicht so pur, so ohne Alibi und Politdiskussionen haben. Schon gar nicht aus der Feder eines Machos. Diesen eben entdeckten Begriff wollten die Frauen zuerst als Waffe benützen. Ehrensperger, sexistischer Macho, den Feministinnen ein Greuel. Und da sie sich, besonders in der Schweiz, zuerst einmal gegen die Männerherrschaft formieren mußten, waren Buch und Autor ein geeignetes Opfer.
Zumal der Held, wenn man will Antiheld, und sein Autor denselben Vornamen tragen. Der Name ist attraktiv, also benützt man ihn.
Natürlich habe ich mich kundig gemacht: Verlage, Redaktionen, Kollegen beiderlei Geschlechts ließen keinen Zweifel: der Autor ist ein Paria. Die Feministinnen kann ich verstehen. Trotzdem bin ich nicht schizophren, zu glauben, dass einer, der so ein Buch geschrieben hat, zu den Ausgestoßenen zu zählen ist.
Zurück zum Buch, zur Literatur, die Neuauflage steht wieder unter einem Doppelgestirn: der Roman aus dem Londoner Carnaby-Klima, aus der Ära der Beatles, des Beat, mutierte zu einem historischen Roman aus dem letzten Jahrhundertdrittel. Sex und Pornoschreibe sind Alltagskost geworden. Henry Millers Wendekreise werden kaum mehr atemlos verschlungen. Video-Kassetten und etliche Dutzend Fernseh-Kanäle besorgen inzwischen das Geschäft. Wozu also noch einmal zurückblicken? Ich las das Buch erst vor anderthalb Jahren, zunehmend zornig über seinen Dornröschenschlaf. Ehrenspergers >Prinzessin< ist taufrisch geblieben hinter längst verwelkten Rosen neuerer Romane. Der Stil der >Prinzessin< macht noch immer atemlos. Es gilt sie endlich zu entdecken mitsamt der über alle Ufer tretende Phantasie des Zürcher Casanovas.
Der Don Giovanni der Londoner Verkäuferinnen, Telefonistinnen, Büromädchen ist ein Sänger des Frauenfleisches, der liebt, bewundert es, rühmt es, ein Virtuose in allen Variationen, doch ohne Obszönität. Der potente Rammler ist ein hochsensibler Artist. Die Zeit ist nicht stehengeblieben. Dominierende Feministinnen haben der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass der entmannte Mann ihnen keine Lust mehr bereiten kann. Dass sie sich selbst keinen Gefallen taten, wenn er, vom endlosen Reflektieren unsicher geworden, Potenzstörungen bekam. In den deutschen Gazetten, den seriösen, keineswegs in der Regenbogenpresse, fand ich Balkenüberschriften: „Die Lust an der Lust“ , „Fontäne der Lust“, – auch Frauen ejakulieren, „Mordlust auf Männer“, so die Komödie Elfriede Jelineks, in Wien hat ihr Geschlechterkampf
kürzlich Uraufführung gehabt. Wir sind also schon mitten im neuen Aufbruch: die Frau akzeptiert den Macho als Prüfstein, also Maßstab, sich an ihm zu messen, ihn zu überholen, er selbst zu werden, ein weiblicher Macho, je mehr, desto mehr Emanzipation, sie erobern das Männerprivileg: anmachen, auswählen, prüfen, verwerfen, wegwerfen. Ehrenspergers Protagonist braucht durch sein Verhalten die Frauen also nicht mehr zu reizen, wohl aber den Männern zuzuflüstern, es sei nicht mehr im Trend, sich vor den Penisabschneiderinnen zu ducken.
Formalin ist keine Metapher, die >Prinzessin< liegt tatsächlich drin. Wie sie zur Mumie wurde, muss der Leser selber erarbeiten, man enthüllt keine Krimipointe, schon gar nicht, wenn der Krimi in eine metaphysische Dimension führt. Die Vermengung von Literatur und Leben mag ich nicht. Sie geht meist auf Kosten der Literatur. Auch wenn ich im Glashaus nicht mit Steinen werfen soll. Mein Schock, als der Autor mir beibringen wollte, es gehöre zum Charakter des jungen Serge in Zürich, dass er auch im realen Leben für eine persische Prinzessin entbrannte, die fast doppelt so alte heiratete, von ihr geschieden und damit gezwungen wurde, sie im Roman u erwürgen, um ewig mit ihr verbunden zu bleiben. Der Wahnsinn hatte also Methode. Gewiss war der Autor nicht mehr tragbar als Lehrer am Gymnasium, das gilt für jede deutschsprachige Behörde in welchem Land auch immer. Damit jedoch genug mit dem „Alles verstehen heißt alles verzeihen“: Auch am Technikum mit erwachsenen Studenten wurde ihm eine feste Anstellung verwehrt. Verzeihen kann ich all denen nicht, deren Aufgabe es ist oder sein sollte, sich ernsthaft mit Literatur auseinanderzusetzen. Deshalb wird es jetzt Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen: Der große Jongleur Ehrensperger läßt keinen Ball fallen: Sprachexzesse, Zertrümmerungen, mit denen das Jahrhundert begann zwischen Expressionismus und Dada, Frivolitäten, Zynismen, Sarkasmen, Traum, Reflexion, Scheinwissenschaftlichkeiten, bis hin zur banalsten Alltagssprache, der unpathetischen Sprache der Werbewelt, zu einem kühlen Glimmerstil, das alles läßt er um die Essenz des Romans wirbeln, um ein Wort, ein anderes Wort für Sex, ein kostbares, langsam zum Urgrund absinkendes Wort: E R O S. In seiner Tiefe sind Lust und Schmerz, Liebe und Tod nicht die zwei Seiten einer Münze, sie sind Zwillinge, siamesische, nicht durch das Skalpell zu trennen.
Ein Rezensent nannte den Roman „ein trauriges, tragisches Buch… sein Bodensatz ist Schmerz“, seine Artistik ist das „Zittern des Leids hinter dem Karneval hörbar zu machen“. Je mehr Eros sich der Todesformel aussetzt, desto näher wagt sich die Mystik. Der Serge des Romans verwandelt sich nicht erst vom Mörder zum Mystiker wie bei Dostojewski, er war es längst vorher, sein Mord war ein Liebesakt. Erst mit der Toten gelingt die mystische Vereinigung rückwärts durch die Jahrtausende. Keinem Leser wird zugemutet, alle Tiefen des Eros auszuloten, sich das ganze Requiem des Wahnsinns anzutun; jedem das Seine zu servieren, das eben ist der grandiose Kunstgriff des Autors. Exakt überlegt setzt er seine Mittel ein, vom vegetativen Anfang über die hitzigsten Furiosostrecken, die Kennzeichen, die Stigmata des Erotischen scheinen aus den Abgründen der Menschennatur zu stammen und sind gleichzeitig höchste Künstlichkeit, Unnatur, kaltes Metronomdiktat.
Der Autor Serge sagt dem billigen Don Juan, dem abgedroschenen Casanova des Romans den Kampf an, er hat sich entschieden, dem Leichtsinn seines Helden etwas entgegenzusetzen, an dem er leidet, fast zugrunde geht. Der furchtbar Liebende ist keine Strindberg-, keine Bergman-Figur; der sich selbst Erkennende, mit sich selber ins Gericht Gehende ist ein moderner Mensch, dem Leser wird es schwer gemacht, die Wahrheit herauszuschälen, denn der Antiheld ist auch ein Spieler, der stets den höchsten Einsatz wagt, um alles zu gewinnen, bis er verliert, dessen Lebenswille jedoch immer neu aufersteht, triumphiert auf der sinnlosen Suche nach der richtigen Frau, die es nicht gibt. Nicht für ihn.
Zum Schluss ein Hinweis auf einen köstlichen Nebenstrang: die Briefe und Gespräche des Patienten Serge in London mit seinem Psychiater in Zürich zeigen einen versierten Spötter, der seinen Männerfreund nicht im Stich lassen will: beide sind gleich gefährdet, wie es sich für die Psychoanalyse, eine schweizer Domäne, gehört. Der schweizer Experte aber ist ein Russe.
„Keine gemütliche Lektüre, vielmehr das strikte Gegenteil. Die Geister werden sich daran scheiden“, schrieb ein angesehener deutscher Kritiker einstmals. „Ein widerliches Buch“, schrieb der schweizer Rezensent. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.

Gedruckt in: Allmende. Edition Isele 1994 ISBN 3-86142-027-9