Jürgen P. Wallmann Serge Ehrenspergers Roman Prinzessin in Formalin Hamburg

l970 im Süddeutschen Rundfunk Stuttgart, im
Österreichischen Rundfunk Wien und in den Zeitungen
Die Welt Hamburg
DIE TAT Zürich

Ich weiß nicht, ob Serge Ehrenspergers Roman «Prinzessin in Formalin» tatsächlich – wie der Düsseldorfer Claassen Verlag, einen Kritiker zitierend, in einer Zeitungsannonce im letzten Dezember schrieb – die «wichtigste, originellste literarische Neuentdeckung der Saison» ist; um das entscheiden zu können, müßte man schließlich alle relevanten Bücher der Saison gelesen haben. Aber ich bin der Meinung, dass uns dieses erste Buch des 34jährigen Schweizers Ehrensperger, der längere Zeit als Journalist und Werbetexter in London lebte und heute als Marktpsychologe in der Schweiz arbeitet, mit einer ganz erstaunlichen literarischen Begabung bekanntmacht. Dieser Serge Ehrensperger hat ein Buch vorgelegt, das keinen Vergleich mit den Romanen anderer Zeitgenossen zu scheuen braucht und das etliche von ihnen an Vitalität und Suggestionskraft weit übertrifft.

Es ist nicht leicht, dem Leser einen Überblick über den Handlungsablauf zu geben, weil hier Traum und Realität, Fiktion und Wirklichkeit derart ineinander verknotet sind, dass eine säuberliche Trennung in reale Handlung und Imagination unmöglich erscheint.

Im Mittelpunkt steht Serge, ein in London lebender Schweizer Werbefachmann, der offenbar verheiratet ist mit Sima Banou, die einmal als vieltausendjahrealte orientalische Prinzessin und Mumie, dann wieder ganz prosaisch als Kunsthändlerin durch seine Gedanken und Träume geistert. Serge hat den Auftrag, dem maskulinen Esso-Tiger in einer auf unterschwelligen Sex abgestellten Werbekampagne das Konkurrenzsymbol der Shell-Muschel als weibliche Venus-Muschel entgegenzustellen. Um für diesen Auftrag, die Shell-Vagina werbepsychologisch zu lancieren, gerüstet zu sein, macht sich Serge auf, dem Symbol in der Praxis nachzuforschen. Auf den Rat seines mephistophelischen Psychotherapeuten hin- «Don’t fix you up with one woman», – löst er sich von Sima Banou und sammelt Erfahrungen unter den willigen Londoner Mini-Mädchen, die «dank der birth-pill keine Eventualitäten kennen und den Sex à la négligeable behandeln». Im Umgang mit diesen «Amusement-Flipperautomaten» des Sex entwickelt er sich zu einem Makroerotiker; daran zerbricht die Verbindung zu Sima Banou, die sich von ihm scheiden läßt.

Doch offenbar hat sich der Rat des Psychiaters als falsch erwiesen: trotz reicher Abwechslung kann sich Serge innerlich nicht von Sima lösen. Um sie für immer besitzen zu können – und hier sind Realität und Fiktion nicht mehr voneinander zu trennen -, bringt Serge seine «Prinzessin» um, legt sie in Formalin und läßt sie mumifizieren. Seine leidenschaftliche Liebe gilt nun einer hygienisch in Folie verpackten transportablen Leiche.

Dem psychischen Verfall entspricht ein kommerzieller Aufstieg ohnegleichen. Serge eröffnet ein Institut für «Pygometrie», in dem sich junge Damen zwecks Horoskopierung hinterrücks vermessen lassen können, er erstellt «Heirats-Pornoskope», und er hat enormen Zulauf zahlungskräftiger Kundinnen und Kunden. Eine Party schließlich zur Einübung perfekter Begattungsmanieren im Toten-Stil platzt, als die Gäste erschreckt feststellen, dass Serge seine Übungen mit einer wirklich Toten veranstaltet. Die Mumie Sima schließlich, die das British Museum nicht haben will, wird am Ende in ein etruskisches Grab bei Modena deponiert; dort hat sie Telefon im Sarkophag, ist also ständig abrufbereit.

Dieser knappe Überblick gibt noch keineswegs einen Eindruck davon, wie grotesk und verrückt es im Buch zugeht. Denn es wird ja nicht eingleisig erzählt; vielmehr ist die Geschichte auf verschiedenen Ebenen – Realität, Phantasie, Traum Reflexion – angesiedelt, rasch wechselt die Perspektive, die Erzählhaltung, die Zeitebene und die Kulisse: London als modernes Babylon, als Kapitale des Pop und Sex, Underground und Mini, Beat und Hasch, wechselt mit altorientalischer Szenerie; die Welt der handlichen girls kontrastiert zu der Sphäre der kalt-berechnenden Werbestrategen und Konsummanager.

Serge Ehrensperger hat es verstanden, alle diese Elemente zu einem faszinierenden Gemisch zu verquirlen, zu einer Mixtur, in der alle literarischen Mittel der Moderne, von Joyce bis zu den Beatles, mit einer geradezu irritierenden Sicherheit genutzt werden. Obwohl der Leser oft mehrere Seiten lang den Handlungsfaden verliert, wird er in Atem gehalten, über 450 Seiten weg, und das allen kraft einer furiosen Stil-Mixtur.

Serge Ehrensperger schreibt eine gehetzte, atemlose Diktion, in der Bilder und Gedanken und Assoziationen einander jagen, Symbolik und Komik, Groteske und Tragikomödie widernatürliche Verbindungen eingehen, Managerjargon, Werbepsychologie und Sex Vokabular abrupt wechseln mit englischen und französischen Redefetzen, Geräuschimitationen, modischer Pop-Schreibe. Dieser Stil, diese Sprache mit ihrer unverschämten Direktheit in sexualibus, ist vom Rhythmus getragen, dessen Strom alle heterogenen Elemente mitreißt.

Bewußt übersteigerte Metaphorik aber gleitet nicht ab ins Feierlich-Rhapsodische, der Pansexualismus wird nicht ins Pathetische gehoben – immer wieder wird der Fluss der Bilder durch ironische Einfügungen unterbrochen, intellektuell gefiltert, gelegentlich soweit eingedämmt, dass reine Parodie entsteht. Ironische Distanz, Kälte gegenüber dem Material wird allenthalben spürbar – und diese Verbindung von Vitalität und rationaler Kontrolle macht den Reiz, die Faszination der Prosa von Serge Ehrensperger aus, dessen erzählerische Kraft – oder in diesem Fall besser: Potenz – Respekt und Anerkennung abnötigt. 5480