Soledad

Soledad

Anfang 1. Teil «Francos langes Sterben»

Zu der Zeit, da Spanien vom Greisenschlummer Francos beherrscht war, langte Stefan Häggli mit der Botschaftskarosse, die er nach Spanien fuhr, ins Weichbild der Stadt Madrid, morgens um drei, in übermüdet abwägender Vorausschau, spanienträchtig, mit schwerem Kopf und zitternden Händen nach der langen Fahrt – da saß er wieder in der Falle der Diktatur!
Oder raste er noch durch das Tal von Torrijos? Bewacht vom Mond, der sich den Hügelkämmen entlangdrückte – das gütige Auge Soledads oder ein Polizeischeinwerfer? Stieß ihn das Licht dieser aufgehenden Scheibe aus der einsamen Mesetenwüste ins Labyrinth der Hauptstadt hinein? Soledad hatte diesen Mond bestellt; er war ihr Komplize. Am Samstag hatte sie Esteban (Stefan) am Telefon gesagt: «Morgen ist Vollmond, dein Reisetag.»
Hanne hatte ihm geraten, nicht zurückzukehren. «Soledad ist eine Falle für dich.» Doch an dem auf seine Ankunft in Madrid folgenden Morgen traf er sie wieder auf der Cea-Bermúdez-Straße, einem der breiten Boulevards, von modernen Wohnblocks flankiert, benannt nach einem Minister König Ferdinands VII. im 19. Jahrhundert. Da stand Soledad, dieses Wunder von einer Frau: elegant, grazil, graziös, sein Glück, in einem schwarzen Ledermantel, lachte voller herzlicher Freude über seine Rückkehr, in Stiefeln wie eine Polizistin, aber sie war nicht Polizistin, nur Policinella in seinem Bett.
Diese Sonne! das ganze Theater von Madrid hatte wieder begonnen, eine Rokoko-Oper mit vier Millionen Statisten, geschminkt, übertüncht, eine Komödie, über der dunklen Wirklichkeit der Repression? Die Schlussapotheose eines Singspiels über Francisco Franco, den Caudillo, bereits ein Schwanengesang? Ein Schmierstück, mit ganzen Massen von Frauen, ein Volkstanz um einen Popanz, wie auf Goyas «Begräbnis der Sardine», eine angenehme Pest, mit Tausenden von Bazillenmenschen.
«Te gusta España?» Fühlst du dich wohl inmitten dieser Hominikokken? – Der Durchschuss der Städte mit Atmosphäre, Pollen, Pollution, Luft- und Lustverpestung – durch die Monoxyde dser erzwungenen Liebe zum Landespapa?
Aber wer war denn dieser Jäger Francisco, welcher jede Minute einschlief? Wen hatte man auf den Anstand gebracht, damit er einen Hirsch abschieße? Wer schnarchte, als der Hirsch auftauchte, aus dem Nebel- und Schattenmeer, den schon zwei Jäger vorbeigelassen, damit ihn dieser Fettbäuchleingeneral erlege , damit man ihn mit seinem Gewehr fotographieren könnte?
Aus solchen Gedanken erwachte Esteban, als die Taxe am Nuñez de Balboa anhielt, im vornehmen Salamancaviertel.
Segelte er im Aufzug … stieg er über einen Berg … Don Núñez, Wasser! ein neues Meer, eine Insel, die neutrale Botschaft, mit einer Palme, in Francos heißer, zwangs-pazifischer Wasserwüste, im Rettungsboot, ans Ufer dieser Insel seiner Heimat; und – und – und – noch ein Stockwerk glitt vorüber, ins Unwiederbringliche, vor ihm rasten Bürotrakte hinunter, wie die flinken Spanierinnen am Tage X, wenn dieses verwunschene Land endlich von einer lebendigen Reliquie erlöst würde.