franco

FRANCOS LANGES STERBEN

Chiffrierte Briefe aus der Diktatur

Roman Geb. 325 S.
Edition Erpf bei Neptun Kreuzlingen 1987. (Orig.)
ISBN 3-256-00104-1

Der weltweit einzige authentische Roman über die letzten Franco-Jahre in Spanien. Der Autor erlebte sie als Germanistikdozent an der Universität Complutense 1973-76 in Madrid. Mit pikaresken, teils erotisch-drastischen Szenen, eingestreut in die Romanhandlung.

„Ein gewaltiges Metaphernfeuerwerk. Das Protokoll der Agonie einer Diktatur.“
Uwe Friesel, Radio DRS

Pressestimmen und Rundfunksendungen im ganzen dt. Sprachraum


Dichtung und Wirklichkeit im späten Francostaat


Gastvortrag von Serge Ehrensperger über seine Spanienbücher

Goethe Institut Madrid / INSTITUTO ALEMAN
Calle Zurbaran
Donnerstag 17. Mai 2007 10.00 a.m.

Meine sehr verehrten Damen und Herren

„Ich bin nach Spanien zurückgekehrt“ steht auf Seite 51 meines Romans „Francos langes Sterben. Chiffrierte Briefe aus der Diktatur“, um den es hier vor allem geht. Und zwar zu einem besonders erfreulichen Anlaß: um über meinen Spanienaufenthalt von 1972-75 als Honorarprofessor für Deutsche Sprache an der Madrider Universität Complutense zu sprechen, über meine damaligen Eindrücke, Erfahrungen und über die Stimmung zur Zeit des alten Franco und das Leben in Madrid mit den Auswirkungen seiner Diktatur.

Wir befinden uns übrigens hier im Goethe-Institut von Madrid schon im Prolog zu meinem Roman „Francos langes Sterben“, wo auf den Seiten 29 bis 31 mit Datum des 17. Novembers ein ausgezeichneter Vortrag über die Novitäten auf dem deutschen Büchermarkt von Professor Peter Wapnewski in einer äußerst respektlosen Art beschrieben wird, die zweifellos ungerechtfertigt war und gerade dadurch zu einer heute leider kaum noch praktizierten literarischen Disziplin gehört: dem Zynismus und der Verachtung.

Wie und warum bin ich nach Spanien gekommen?

Das hing zusammen mit meinem Studienfreund Dr. Jost A. Müller, der an der Complutense als Schweizer Lektor für Germanistik tätig war. Müller war ein Bewunderer meines ersten Romans „Prinzessin in Formalin“, einem ebenso skandalösen wie tragischen Liebesroman. Er war 1969 im angesehenen Claassen Verlag in Hamburg erschienen und veranlaßte mich trotz seines glänzenden Erfolgs, die Schweiz zu verlassen. Ich hatte „Prinzessin in Formalin“ von 1966 bis 68 in Zürich ge-schrieben, nach einem mehrjährigen Aufenthalt in London als Zeitungskorrespondent und anschließend als Werbetexter in einer der großen englischen Werbeagenturen und kein Mittel gescheut, die Rückständigkeit der damaligen deutschen Literatur zu exponieren, vor allem durch Sex à la Henry Miller, aber auch durch einen unkonventionellen Romanaufbau. Das brachte mir mehr Feinde als Freunde, ich mußte um mein Auskommen bangen und floh nach Hamburg, wo ich unerkannt ein unglückliches Jahr als Deutschlehrer an einem der besten Mädchen-Gymnasien verbrachte. Müller erbarmte sich des genialen Autors, als den er mich sah, und schlug mich als seinen Nachfolger in Madrid vor, als er sich als Regieassistent nach Innsbruck aufmachte. Der Posten in Madrid hatte den Vorteil von weniger als zehn Wochenstunden, für die angesichts des bescheidenen Niveaus der Klassen keinerlei Vorbereitung nötig war. Fast die Hälfte des akademischen Jahrs waren Ferien, und trotzdem lernte ich Spanien in einer Weise kennen, wie es selten einem Ausländer möglich war. Die Devise Hemingways bewahrheitete sich, nach der man, um ein Land kennenzulernen, mit den Be-wohnern arbeiten und mit den Frauen des Landes schlafen müsse. Meine Wohnungsvermieterin Margarita Robledo wurde meine Freundin und Spanienvermittlerin über drei Jahrzehnte hinweg bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren.
Man hatte mich gewarnt, Spanien sei ein totes Pflaster für einen deutschsprachigen Schriftsteller. Werke über Spanien könnten in Deutschland kaum durchgesetzt werden. Das sollte sich bestätigen. Aber für mich war Madrid eine kreative Erneuerung, die sich lohnte. Meine Erzählungen „Schloßbesichtigungen“ über Spanien erschienen 1974 im Zürcher Benziger Verlag. Doch mein zwei Jahre später abgeschlossener Roman, dem wir den wirkungsvollen, aber auch irreführenden Titel „Francos langes Sterben. Chiffrierte Briefe aus der Diktatur“ gaben“, sollte weder von Claassen, wo man lange auf ein zweites Buch von mir gewartet hatte, noch von einem anderen angesehenen deutschen oder Schweizer Verlag gedruckt werden. Der Lektor meiner „Prinzessin in Formalin“, Wolfgang Mönninghoff, inzwischen bei Rowohlt, schlug das Buch für Rowohlt vor, doch Jürgen Manthey schickte es mir mit der Begründung zurück, man habe mit Spanien immer negative Erfahrun-gen gemacht. Mit der gleichen Begründung wartete auch Otto F. Walter auf, damals Lektor bei Luchterhand, obwohl er mir Komplimente für meine Schreibe machte.
So blieben die „Chiffrierten Briefe aus der Franco-Diktatur“ zunächst einmal liegen, und ich kehrte in die Schweiz zurück, wo ich die Gelegenheit des RAF Prozesses gegen Rolf Clemens Wagner in meiner Heimatstadt Winterthur ergriff, um endlich deutschen Stoff zu gestalten. Das hatte man mir bei Claassen schon nach meinem ersten Roman ostentativ abverlangt. Aber auch diese RAF-Prozeßtage, konnten nicht in Deutschland erscheinen, weil deutsche Verlage ein Embargo erhalten hatten und jegliche staatliche Unterstützung verlieren würden, falls sie das Thema des Terrorismus in einer ihrer Publikationen behandelten, sei es affirmativ oder ablehnend. Dieses Faktum ist bis heute kaum jemandem bekannt geworden. Als letztes Jahr ihn Berlin auf einer Gedenkausstellung auch „dokumentarische“ Bücher auflagen, waren es ausnahmslos Bücher ohne direkten Bezug zu den damaligen Ereignissen. Meine Bitte, die 1981 in der Berner Edition Erpf erschienenen und im gesamten deutschen Sprachraum häufig rezensierten „Prozesstage“ noch aufzulegen, verhallte im Leeren.

So saß ich damals auf dem abgelehnten „Franco“ und den in Deutschlan trotz dieser wirksamen
Rezensionen praktisch unbekannten „Prozesstagen“, nachdem meine „Prinzessin“ erfolgreich wie selten ein Erstling gewesen war.
Die Ablehnung „Francos“ bei Claassen verdient noch ein Wort. Meine beiden Lektoren waren nicht mehr dort, der Verlag stand kurz vor dem Zusammenbruch, und ein Junglektor hatte keine Ahnung, wer ich bei Claasen vor sechs Jahren gewesen war. So im Jahr 1976, kurz nach Francos Tod.

Im Gegensatz zu diesen traurigen Verlagserfahrungen stand von Anfang an mein Leben in Madrid, das unerwartet glücklich war. Die Düsternis der Tyrannei sah hier ganz anders aus. Franco hatte alle politischen Parteien verboten und die Spanier zu einer großen Familie erklärt, unter seiner kaum bemerkbaren Fuchtel. Die Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit der hiesigen Atmosphäre war überraschend, nicht nur für mich, für sämtliche Zeugen jener Jahre, die ich kenne. Ausländer waren gern gesehen, vor allem bei den spanischen Frauen, und ich hatte durch meine Tätigkeit an der Uni Gelegenheiten wie selten jemand, in das Leben Madrids hineinzusehen, auch in die private Welt der franquistischen Machthaber. Diese Diskrepanz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit war der Hauptgrund, warum mein Roman in Deutschland keine Gnade fand.
An einer Stelle im Roman (S. 216) schreibt Häggli an Hanne, eine Lektorin bei Claassen in Hamburg:

„Ich bin wieder in Madrid. Drei Tage lang pfiff mir die Verhaftung um die Ohren. Sie haben mich nicht geschnappt. Aber ich liege von neuem gefesselt, in den alten Banden, gefangen von den Reizen dieser Stadt, der Stadt der Menschlichkeit und der Repression. Wie geht das zusammen? fragst du. Du hast immer noch nichts von Spanien begriffen.“

Der Schweizer Stephan Häggli, der in Spanien Esteban Buenache heißt, hat einige Tage und Nächte in Nachtkneipen verbringen müssen, ohne seine Wohnung betreten zu können. Sie war von ETA-Leuten unter seinen Studenten requiriert worden, mit denen er sich eingelassen hatte. Das ist der wichtigste Handlungsbogen des Romans, an den die einzelnen Szenen aufgehängt sind. Überflüssig zu sagen, daß er erfunden ist.

Aber es mußte Blut fließen in einem Zeugnis über das Franco-Land. Blut war damals vor dreißig Jahren zur Genüge geflossen, ich meine nicht etwa nur im Bürgerkrieg, sondern nach Francos Sieg 1939. In den Vierzigerjahren fanden noch massenhaft Erschießungen ehemaliger Republikaner statt, insgesamt mehr als dreihunderttausend! Dies nach offiziellen Zahlen, die Franco selber dokumentierte, ein Greuel nach einem Sieg, wohl einmalig in der europäischen Geschichte. Darunter waren auch die republikanischen Gefangenen, die als Zwangsarbeiter im Valle de los Caidos das Siegesmemorial bauten. Davon hatte ich keine Ahnung. Auch die damaligen Spanier wußten davon nichts oder glaubten es nicht. Für sie wirkte Franco fast wie ein weit entrückter Landesvater im Hintergrund, der das bürgerliche Leben sicherte, ein Gut, das die Spanier in ihrer Geschichte selten kennengelernt hatten. Die allgegenwärtige Guardia Civil und die Policia Armada mit ihren Karabinern und Maschinenpistolen an Straßenecken und vor öffentlichen Gebäuden, störten kaum. Die Polizei verhielt sich freundlich. Natürlich spielten sich die häßlichsten Szenen ab, sobald jemand mit dem Regime in Konflikt geriet. Tageszeitungen wie das Blatt „Informaciones“ berichteten verdeckt über Verhaftungen und ähnliches in schematischen Formulierungen, die Eingeweihte wohl verstanden. Die spanische Arbeiterpartei war im Untergrund längst vorhanden, angeführt vom Staatsrechtprofessor Tierno Galván, der seinen Posten an der Uni von Salamanca verloren hatte, als er sich für streikende Arbeiter einsetzte. Er unterhielt in Madrid ein Anwaltsbüro an der Marqués-de-Cubas-Straße, das die heimliche Parteizentrale war. Tierno war ein hochgebildeter Mann mit Deutschkenntnissen und einer Vorliebe für die deutsche Kultur. Meine Art von Literatur war allerdings kaum seine Sache. Als ich ihm erklärte, ich hätte einen Roman mit pornographischen Partien geschrieben, bemerkte er verächtlich: „Haben Sie das jetzt überwunden?“ Er wurde der erste Bürgermeister im freien Madrid nach Francos Tod und war äußerst populär.

Zu meiner Zeit wurde als wohl spektakulärstes Ereignis der Innenminister Carrero Blanco in seiner Limousine bei einem Kirchenbesuch von der baskischen „Opposition“ über vier Stockwerke hinweg in den Hof eines Klosters gesprengt, eine Explosion, die weltweit in der Presse widerhallte und als der Anfang der spanischen Befreiung gewertet wurde. Aber es verhärtete höchstens die letzten zwei Jahre der Diktatur vor Francos Tod und war nur eine Rache der ETA an der Person Carrero Blancos als eisernem Innenminister. Der greise Franco berief seinen Vertrauten Arias Navarro zum Nachfolger des Ermordeten, der sich mit seinen Drohreden über die Maschinerie der Repression, die der Regierung zur Verfügung stehe, am Fernsehen selber unmöglich machte.

Später, ebenso weltweit wahrgenommen, folgte die Hinrichtung des ETA-Terroristen Puig Antich und zweier weiterer Etarras in Madrid durch die Würgeschraube, den garrote vil. Die Technik ist ein Eisenband, das um den Hals des Gefesselten gelegt wird und ihm die Luftröhre zupresst, bis er kurz vor dem Ersticken ist. Dann wird es etwas gelockert, bis zum nächsten Mal. Ausländischen Zeitungskorrespondenten, die die Hinrichtung mitverfolgen wollten, wurde verboten, darüber zu be-richten. Sie erzählten, daß die Quälerei von Mitternacht bis zum frühen Morgen dauerte. Die spanische Bevölkerung wußte nichts Genaues und war in der Mehrzahl einverstanden, daß diese Mörder den Hinrichtungstod erlitten. Puig Antich wird als ein junger Mann von fast evangelischer Lauterkeit beschrieben durch Leute, die ihn kannten.
Natürlich waren die Verhältnisse in den Gefängnissen ebenso unbeschreiblich wie unbekannt. Wer in die Fänge der Diktatur geriet, war selber schuld, so sah man es. Die Angst vor einem ausbrechenden Chaos, das das Ende der Prosperität bedeutet hätte, stützte das Regime, weitgehend mit amerikanischem Kapital.
Für mich war Madrid eine viel interessantere, modernere Stadt – durch ihre Beziehungen zu beiden Amerikas, auch sprachlicher Art – als die meisten europäischen Metropolen, die ich gesehen hatte. Francos Politik, Eigentum auch in den unteren Schichten zu schaffen und sie dadurch an den Staat zu binden, war wichtig als Erklärung der Zufriedenheit. Einfache Spanier konnten mit Hypotheken von bis zu 97 % eigene Wohnungen erwerben und über Jahre hinweg abzahlen.
Unglaublich war Madrids Nachtleben, ein Ausdruck mit ganz anderer Bedeutung als in Europa, denn es ging nicht um das Leben einer bestimmten Gruppe, in Bars usw., sondern ganz Madrid war unterwegs. Man bestellte morgens um drei Uhr noch eine volle Mahlzeit auf der Castellana. Die Stadt war sicher, Frauen konnten unbehindert und gefahrlos allein nach Hause zurückkehren, Diebstähle und Verbrechen waren selten, die Polizei der Garant des metropolitanen Glücks.
An der Uni fanden allerdings höchst unerfreuliche Szenen statt, wenn die Studenten demonstrierten. Auf den Korridoren und Vorplätzen der Complutense war die Polizei sofort da und Verhaftungen waren die Regel. Das akademische Leben litt beträchtlich unter diesen Freiheitsrufen, da die Uni oft wochenlang geschlossen blieb.
In meinen Jahren allerdings kam das nie vor. Vielleicht weniger anschaulich sind diese Szenen in meinem Roman im Vergleich zu den von Erotik und Wunschträumen durchsetzten Szenen in Bars und nächtlichen Lokalen.
Wir kommen zum Punkt: Mir war klar, daß man von einem Roman die Gestaltung der Diktatur in konkreter Weise erwartete. Anfänglich glaubte ich sie auch zu bemerken, ich war mißtrauisch an allen Ecken und Enden, ich konstruierte Ängste in der Vorstellung, die sich absichtlich und unabsichtlich mit der Wirklichkeit verquickten. Ich mußte doch, kraft meiner demokratischen Gesinnung, die hiesige Welt ablehnen.

Kreative Auferstehung

Das erste Jahr in Madrid verlor ich mit der Fertigstellung des in Hamburg begonnenen Romans „Georg Seldams Deutschlandträume“, der erst zwanzig Jahre später mit zwei anderen als „Drei kleine Romane“ erschien. Doch im Sommer 1973 erfaßte mich die spanische Szene. Eines Sonntags in Alameda del Valle im Guadarramagebirge, wo ein Bekannter meiner spanischen Freundin Margarita eine Gaststätte betrieb – Milchlämmchen im Ofen war die Spezialität – und wo Madrilenen der konservativen Richtung verkehrten. In der Nähe lag das Nonnenkloster El Paulár mit einer großartigen Kirche und weiten Räumlichkeiten. Solche Sonntagsausflüge inspirierten mich zur Erzählung „Schloßbesichtigungen„ wo ein Schweizer mit vornehmen Spanierinnen (meinen Studentinnen!) Burgen und Schlösser besucht, mit ihnen schläft und sie am folgenden Tag umbringt, um ihnen die Schande der Entkeuschung ohne Hochzeit zu ersparen und sich selbst der Rache ihrer Väter und Brüder zu entziehen. Die Freundlichkeit der spanischen Frauen war eine weitere Überraschung. Sie ließen sich gern einladen, fühlten sie sich doch durch die eiserne spanische Moral gesichert.
Ein Liebesmord hatte schon im Zentrum meiner „Prinzessin in Formalin“ gestanden. Sollte ich mit Sex, sollte ich als „Kriminalschriftsteller“ weiterfahren? Oder ganz anders zu schreiben beginnen? Ich war ratlos. Der Lektor und Entdecker meiner „Prinzessin“ beim Claassen Verlag, Wolfgang Mönninghoff, erklärte mir eines Tages, ich hätte in diesem genialen Buch mein ganzes Germanistikstudium ausgekotzt und würde nie mehr etwas schreiben. Solche Ein-Buch-Schriftsteller gibt es tatsächlich. Aber mir saß diese Äußerung wie ein Stachel im Fleisch – und siehe: sie war falsch.
Die Titelerzählung der „Schloßbesichtigungen“, „Antonio Pérez und das andere Spanien“ ist nach dem Staatssekretär Philipps des IV. benannt, der zusammen mit dem damaligen protestantischen (!) Frankreich Heinrichs IV. und mit England das katholische Spanien aus den Angeln hatte heben wollen. Es folgten weitere Erzählungen, in denen Frauen entkeuscht und umgebracht werden. Ihre Leichen landeten notgedrungen im Forensischen Institut des alten Spitals von Atocha (dem heutigen Museum Reina Sofia) in Madrid. Die Leichenhalle des Spitals war zur Cafeteria umgebaut worden. Ich trank dort täglich Kaffee mit Margarita, der Soledad im Buch, die als Röntgenassistentin tätig war, und mit den spanischen Ärzten, die mit mir freundschaftlich verkehrten, obwohl ich annahm, sie würden mir mein Verhältnis mit Margarita anlasten, weil sie neidisch oder abgeblitzt waren. Unsere harmlos-unpo–litischen Gespräche über Spanien und die Schweiz überraschten mich, doch blieb ich auf der Hut.
In den „Schlossbesichtigungen“ stellt es sich heraus, daß die Ärzte wußten, woher die Leichen stammten, und mit den von mir ermordeten Mädchen sexuell verkehrten und so ihre katholische Inhibiertheit durchbrachen. (Auch in der „Prinzessin in Formalin“ spielt Nekrophilie eine Rolle). So hatte ich, laut der Konzeption des Ganzen, mit ihnen ein heimliches Abkommen, ihnen frische Leichen junger Spanierinnen zu liefern, während sie mir mein freies Verhältnis mit Soledad, einer geschiedenen Spanierin, die eigentlich ihnen gehörte, erlaubten.
Ganz klar kommt diese Verknüpfung im Erzählband „Schloßbesichtigungen“ nicht heraus. Die Fortsetzung der letzten Erzählung „Geheimnis Vallecas“ war zur Zeit des Erscheinens noch nicht bereit und wäre wohl kaum aufgenommen worden. Ich konnte nicht fassen, daß die doch nicht so harmlose Sammlung in der Schweiz erschien und verdankte dies einer deutschen Lektorin, Frau Dr. Renate Nagel, die eben bei Benziger eingetreten war. Der kleine Band hat verschiedene Rezensionen erfahren, eine einfältige in der FAZ, eine freundliche in der NZZ, die immerhin einen Leser veranlaßte, zu reklamieren, man propagiere Pornographie. Klara Obermüller schrieb die wichtigste Kritik in der Zeitung „Die Tat“. Sie rühmte die ergötzlich-mephistophelische Nonchalance in der Beschreibung der geschlechtlichen Emanzipation.
Meine literarischen Anhänger waren erfreut, daß mir die Fortsetzung meiner Linie geglückt sei. Mein kürzlich erschienener neuer Erzählband „Das Messer der Jahre“ enthält nun die letzte Erzählung „Geheimnis Vallecas“ vollständig und in ihrer ganzen Unerbittlichkeit bis zum glücklichen Ende, wo die hochschwangere Chelo mit ihrem Bräutigam der Diktatur entflieht, indem sie sich auf dem Flugplatz von Barajas an ein aufsteigendes Flugzeug hängt und im Himmel die Puppe Democracia zur Welt bringt. Auf Seite 204 in „Francos langes Sterben“ befindet eine weitere „Schloßbesichtigung“, die nachträglich entstandene „Hochzeit von Guadalupe“.

„Francos langes Sterben“

Der Roman „Francos langes Sterben“ ist ein Roman! Wie alle meine Romane stammt er aus der Zeit, als man überzeugt war, das lineare Erzählen sei vorbei. Der bekannte ostdeutsche Publizist Friedrich Dieckmann schrieb mir allerdings zu „Franco“: „Ihr „Franco“ ist alles andere als ein Roman.“ Ich wies ihn auf Clemens Brentanos „Godwi“, den Brentano im Untertitel selber „Ein verwilderter Roman“ nannte, hin. Ein experimenteller Roman also, könnte man sagen. Er entstand stückweise. Einzelne Kapitel wurden im voraus publiziert in Schweizer Literaturzeitschriften oder in Tageszeitungen. Sie waren beliebt, weil ungewöhnlich, aus Spanien, satirisch und verdreht. Immer war ich auf voran-gehende Pressearbeit angewiesen, die zur Grundlage auch dieses Romans wurde. Ich arbeitete heimlich für einen Schweizer Zeitungsring und fuhr auch zur Nelkenrevolution nach Lissabon, wo ich im Hotel International in einem Zimmer wohnte, unter dessen Fenster ich am Morgen des Revolutionstags die aus Afrika heimgekehrten portugiesischen Truppen mit einer Nelke im Gewehrlauf vorbeiziehen sah. So entstand das Kapitel über Lissabon und die unbeschreibliche Stimmung dieser Stadt in den Tagen der politischen Umformung. Ich schüttelte dem umwerfend freundlichen Alvaro Cunhal, dem aus Moskau zurückkehrenden Kommunisten, die Hand. Schon vorher war ich nach dem Tod Salasars im Auto aus Portugal hinausgerollt, mit der Trauermusik im Radio und der immer wiederkehrenden Stimme: „Mureu Salasar, mureu Salasar…“ im Radio. Als Journalist hielt ich mich später kaum zurück, den auf Spinola folgenden Mario Soarez in Porto anzuregen, er solle die Zügel in die Hand nehmen statt lahme Reden zu halten. Das vom Faschismus befreite Land sei im Begriff, in den Kommunismus hineinzuschliddern. Ich wußte noch nicht, daß das für Soares nicht besonders schlimm gewesen wäre.
Nach meiner Rückkehr aus Madrid wurde ich durch John Erpf Präsident des Schweizer Pen Clubs, doch durch den Vorgänger Silvio Blatter zum Vizepräsidenten degradiert, weil ein Präsident, der ein so obszönes Buch wie „Prinzessin in Formalin“ geschrieben habe, einem Pen-Club nicht bekomme. Als Vizepräsident gewann ich viele Freunde unter in- und ausländischen Autoren. Ich war präsent auf den internationalen Pen-Kongressen in Lugano, Barcelona, Wien, Prag, Santiago de Compostela. In Barcelolna schlug ich im Auftrag der Schweizer vor, Deutsch als vierte Pen-Sprache einzuführen, da es noch immer die Verständigungssprache der Intellektuellen in den osteuropäischen Staaten war. Die Deutschen wagten es nicht, diese Initiative zu unterstützen, obwohl sie von 20 Pen-Clubs befürwortet war.
Als „Francos langes Sterben“ 1987 ebenfalls in der Edition Erpf erschien, ergänzte ich das ursprüngliche Manuskript durch Kommentare eines fiktiven Herausgebers an einen ebenso fiktiven Internationalen PEN, auch zur Verlängerung des Werks, das mindestens 200 Sei¬en haben sollte. Diese Kommentare bewirken einen weiteren Dreh ins Komische und Pikareske. Also ein Roman über die letzte faschistische Diktatur Europas voller Verstöße gegen die lineare Handlungsführung. Nicht deshalb, sondern wieder durch die Verlagssituation stand das Werk nochmals unter einem schlechten Stern. Der Spanier und Spanisch-Professor José López de Abiade am Zürcher Polytechnikum, dem ich das druckfrische Werk geschickt hatte, wies in seiner Vorlesung für rund 200 Hörer aller Fakultäten auf die Neuerscheinung hin – doch wer darauf den Roman kaufen wollte, konnte ihn nicht finden. Erst Monate später tauchte er auf. Mein Verleger John Erpf hatte wegen Schulden den Eintrag in das Verzeichnis der Bücher nicht erreicht. Solche Rückschläge trafen mich oft. Aber ich war auf – sagen wir mal – alternative Verleger angewiesen. Suhrkamp und Luchterhand, Fischer und Hanser wollten sich auch mit meiner artistisch-literarischen Konzeption nicht identifizierten. Versucht habe ich es jedes Mal. Daß Herr Balthasar Reinhart, der Investor in Unselds Suhrkamp Verlag, in Winterthur wohnte, schadete mir mehr, als es mir hätte helfen können.

Zwei weitere Elemente meiner Bücher waren nicht konform: Die Sprachspielerei als ihre Grundstruktur und die Komik, die direkt neben bitterstem Ernst, neben Tragik und Depression Platz hatte. Anders die „Schloßbesichtigungen“. Sie wurden von mir in einem „normalen“ Stil auf ein Diktaphon, das ich immer bei mir hatte, gesprochen und später abgeschrieben. Meine Romane hingegen entstanden auf einer elektrischen Typenhebel-Remington, deren Geklapper mich beflügelte.
In „Francos langes Sterben“ wird der Schweizer Botschaftsbeamte Stephan Häggli mit einer Vorlesung über Staatsrecht an der Complutense beauftragt. Das ist natürlich erfunden. Häggli gibt genügend Anlaß zu seiner baldigen Entlassung, wenn er erklärt, die Verfassung, die Franco Spanien gegeben habe, sei keine Verfassung, sondern ein Regierungsprogramm, von der Regierung für sich selber erlassen. (S. 35). Tierno Galván, den Häggli besucht, „lächelt darüber, daß Häggli nicht auf das Stölzchen von Universitätsvorlesungen verzichten könne.“ Tierno sieht die Complutense als das „Friedhofgelände des spanischen Geistes“(S. 17), warnt aber Häggli davor, sich mit den dortigen Gespenstern anzulegen. Die hohlen Schädel, die dort wandelten, hätten giftige Zähne.“ Das Ganze sei aber ungefährlich.
So im Roman. In Wirklichkeit habe ich nie über die spanische Politik oder Verfassung gesprochen. Der Grund zu meiner plötzlichen Entlassung –auf die ich sehr stolz bin! – war, daß ich von den Germanistik-Studenten verlangte, einen einfachen spanischen Text ins Deutsche und einen deutschen ins Spanische zu übersetzen. Das wurde als eine übertriebene Anforderung betrachtet. Abgeschriebene Prüfungsarbeiten und weitere Mogeleien, die üblich waren, wollte ich nicht tolerieren. Kaum eine Rolle spielte meine journalistische Tätigkeit in Madrid und Lissabon. Tierno Galván suchte ich mehrmals auf, um von ihm Informationen für Zeitungsartikel zu erhalten, die ich unter einem Pseudonym schrieb. Er war aber wenig zufrieden mit mir, denn meine Artikel bekam er kaum zu sehen, weil die Agenturen schneller waren oder die Zeitungen sie mir nicht zuschickten. Hingegen faßte ich ihn für das Szenario meines Romans ins Auge. Das Kapitel über ihn sollte später im neuen Magazin „Madrid“ abgedruckt werden. Es wurde nicht publiziert, so wenig wie ein Interview mit mir, ohne daß ich je erfuhr, warum. Wahrscheinlich war meine Übersetzung des sprachspielerischen Deutsch ins Spanische nicht verwendbar gewesen. (Auszug aus S. 142-149).

Die Chiffrierten Briefe

Der ganze Roman ist ein einziger chiffrierter Brief. An eine Hanne in Hamburg, also nach Deutschland. Darin die einzelnen als solche bezeichneten chiffrierten Briefe: Symbolische, satirische, oft erotische Gestaltungen der politischen Wirklichkeit.

So gehen in diesem Romanaufbau Prologe, der Epilog, die 18 Kapitel des ersten und die 8 Kapitel des zweiten Teils, die im zweiten Teil nicht mehr numerierten Chiffrierten Briefe und der Kommentar des fiktiven Herausgebers an einen fiktiven internationalen PEN durcheinander, ein Konzept, das keine Mühe macht, wenn man sich darauf einläßt. Trotzdem liest sich alles problemlos flüssig und die Spannung trägt über das Ganze hinweg. Schon in meiner Dissertation über „Heinrich von Ofterdingen“ von Novalis habe ich mich mit dem Aufbau des Romans befasst.

Nun kurz zu den einzelnen chiffrierten Briefen:
Der erste steht im Prolog auf Seite 51 ff., „ein mit Frankophilie und Fahrtwind chiffrierter Reisebericht“. Frankophilie ist mit k, nicht mit c geschrieben, denn es handelt sich um Liebe zu Frankreich.

Der 2. Chiffrierte Brief ist das Examen der Studentin Carmina im Zarzuela-Öperchen S. 86-92.

Der dritte ist das Kapitel im ersten Teil über das säkularisierte kastilische Rosen- und Animiermädchen Conchita, das als Nachtherzogin im Harry’s Pub am Serrano-Boulevard seine Unabhängigkeit ausprobiert (S. 94-107).

Der 4. enthält das Wunder der Heilung der lesbischen Exilkubanerin Raquel von ihrer sklavischen Verbindung mit der Pariserin FranÇoise in der Kirche San Placido der einstigen Erleuchtungssekte im 16. Jh., wo laut dem spanischen Arzt und Schriftsteller Maranon erotische Praktiken mit religiöser Inbrunst verbunden wurden (S. 186-192).

Der 5. Chiffrierte Brief ist die nachträglich entstandene „Schloßbesichtigung“ „Hochzeit in Guadalupe“ (S. 204-214). wo Esteban (der Leidende!) mit Soledad dem Warenhaus-Delirium von Madrid in die Einsamkeit des Klosters von Guadalupe in der Estremadura entflieht und dort eine Magd ins siedend heiße Badewasser stößt.

Der 6. Chiffrierte Brief ist die Passion Christi auf dem Sacro Monte von Granada (S. 239-248), wo die Statue des Christus, der nichts für die Armen tut, verbrannt und in den Abgrund geworfen wird.

Im 2. Teil verwischen sich Wahrheit und Chiffre im¬mer mehr. Schließlich geht alles in Flammen auf, wenn Jesus in Atocha über einen brennenden Balken flieht, der Franco-Staat verbrennt und die Studentin Carmina als die Terroristin „Ascensión“ auftritt und sich am profesor der Examensszene im
2. Chiffrierten Brief rächt, indem sie ihn zwingt, eine Flasche Chinchón-Schnaps auszutrinken.

Das alles ist Dichtung. In Madrid war nicht die geringste Spur einer politischen Spannung angesichts des sterbenden Franco zu spüren, so wenig wie nach seinem Tod sofort etwas geschah. Alles blieb ruhig, und auch der Übergang, die Transición, spielte sich später völlig undramatisch ab. Das war weitgehend dem schlauen Präsidenten Adolfo Suarez zu verdanken, den die Rechte zur Erhaltung des Franquismus eingesetzt hatte und der unmerklich der Linken und dem ersten sozialistischen Premierminister Felipe González in die Hände arbeitete, ein kleiner Prinz, der auch durch seine zahl-losen Frauenaffären ein neues Zeitalter der Freiheit artikulierte.

Nachdem ich Ihnen so viele publizistische Niederlagen in und mit Spanien schildern mußte, möchte ich die Szene kurz aufheitern: Der Roman „Francos langes Sterben“ ist weitweit der einzige authentische ROMAN über die späte Francozeit und ihr Ende. Falls Sie dies widerlegen können, bin ich Ihnen dankbar für den Autornamen, den Titel und den Verlag des gedruckten Buchs. Der Grund für dieses Faktum ist der, daß nach Francos Sieg 1939 alle internationalen Intellektuellen Spanien verließen, zusammen mit vielen spanischen Autoren, die schworen, Spanien nie mehr zu betreten, bis Franco tot sei. Einer langen Reihe von rückkehrenden Republikanern begegnete ich kurz vor der Grenze zu Frankreich, als ich am frühen Morgen des übernächsten Tages – ich war die Nacht durchgefahren – im Auto zur Beerdigung meines Vaters, der am gleichen Tag wie Franco gestorben war, fuhr. Ein gespenstischer Zug von zerlumpten greisen Gestalten am Straßenrand kam mir entgegen.

Zurück in die Franco-Zeit: Jüngere spanische Autoren hätten sich strafbar gemacht, wenn sie einen Roman direkt über die Franco-Diktatur geschrieben hätten. Die Erlaubnis der Zensur für jede Veröffentlichung mußte eingeholt werden. Deutschsprachige Bücher hingegen interessierten auch die spanische Zensur nie, und sogar Maos rotes Büchlein war in Madrid erhältlich.

Kaum zur Franco-Diktatur gehört Rafael Chirbes’ Roman „La Caida de Madrid“, der vor einigen Jahren in Deutschland vorgestellt wurde, empfohlen von Marcel Reich-Ranicki, der darin den von ihm in deutschen Romanen so sehr vermißten Sex begrüßte. Der Roman ist zwar zur Zeit des Endes des Franco-Staates in Madrid angesiedelt, handelt von einem Möbelhändler, doch der politische Schauplatz wird nur gestreift. Die sogenannten Sexszenen möchte ich als ungewürzten Genitalien-Salat bezeichnen.

Der auf literarischen Sex gierige Reich-Ranicki hat übrigens meinen Roman „Prinzessin in Formalin“, das „obszönste Buch der deutschen Sprache“, wie es sein erster Kritiker nannte, mehrmals erhalten. Trotzdem erklärte er einmal, in der Schweiz sei offener Sex nicht möglich. Als ich ihn schließlich am Telefon erreichte, erklärte er: „Sso schicken Sie mir doch Ihr Buch. Es wird dann rrezenssierrt.“ – „Gerne schicke ich es Ihnen noch einmal“, war meine Antwort. „Ich habe es Ihnen schon zweimal geschickt.“ – Nie hörte ich etwas von diesem Mann, der wohl die Konzeption meiner Romane nicht akzeptieren konnte. Ebensogut ist es möglich, daß er ein in einem unbekannten Schweizer Erpf-Verlag erschienenes Buch überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Bekanntlich ist es der Verlagsname, der in der Literatur die Musik macht.
Das neue Spanien und vor allem seine Kultur nach Francos Tod erlebten wir als enttäuschend. Die internationalen Moden hielten Einzug, und die spezielle Stimmung in Madrid verschwand. Die Diktatur hatte den literarischen Kampf der kritischen Schriftsteller geschärft durch Chiffrierung, symbolische und indirekte Kritik bis hart an die Grenze der Verfolgung, so vor allem im Theater durch Adaptationen. Bearbeitungen und Umdeutungen bekannter Stücke z.B. von Antonio Gala. Die symbolische Bedeutung der Stücke wurde von der Zensur kaum begriffen und blieb meist unbehelligt. Auch der Nobelpreisträger José Maria Cela war bei der Zensur, nach seiner eigenen Aussage, um Schlimmeres zu verhindern. Sein unglaubliches Wörterbuch der sexuellen Ausdrücke im Spanischen erregte dabei keinen Anstoß.
Über die neuere spanische und südamerikanische Literatur wissen Sie als Hispanistik-Studenten wohl besser Bescheid als ich.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Die Einladung zu diesem Vortrag erfolgte durch Herrn Professor Ralf Junkerjürgen von der Universität Chemnitz und seiner Hispanistik-Studenten anläßlich einer Exkursion nach Madrid.)